Römer 12,9-16

2. Sonntag nach Epiphanias

Was könnte es für einen besseren Termin für einen Neujahrsempfang geben als den heutigen 2. Sonntag nach Epiphanias. Das Evangelium des Sonntags erzählt die Geschichte von der Hochzeit zu Kana. Jesus verwandelt Wasser zu Wein und rettet damit das Fest. Gastgeber und Gäste der Hochzeit können aus dem Vollen schöpfen, weil Christus bei ihnen ist.

Auch wenn ein Neujahrsempfang selbstverständlich keine Hochzeit ist, soll doch heute etwas von der Fülle des Lebens und der Gaben in unserer Gemeinde zumindest andeutungsweise sichtbar werden. Und zu trinken gibt es nachher natürlich auch etwas.

Aus dem Vollen schöpft auch Paulus in dem Abschnitt des Römerbriefs, der unser heutiger Predigttext ist. Allerdings handelt es sich um eine Fülle, die fast schon ein wenig atemlos machen kann. Eine Fülle an Aufforderungen und Ratschlägen, die uns als Leserinnen und Hörer des Textes fast erschlägt.

Ich lese aus dem Römerbrief im 12. Kapitel die Verse 9-16. Paulus schreibt:

9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. 10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. 12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. 13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. 14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht sie nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug. (Lutherbibel 2017)

Wahrhaftig ein guter Text für einen Neujahrsempfang. Gelten doch Neujahrsempfänge als gute Gelegenheiten, einmal ausführlich über die Vorhaben und Ziele der Organisation zu berichten.

Wenn wir als Gemeinde das alles in 2019 umsetzen, was Paulus uns hier schreibt, dann haben wir eigentlich alles erreicht, was man als Kirchengemeinde schaffen kann. Nun haben wir in der Leitbildarbeit des Presbyteriums gelernt: Ziele sollen realistisch sein, sonst erzeugen sie bloß Frustration. Und ein bisschen erscheint mir die Anhäufung von guten Vorsätzen in diesem Predigttext wie das Ergebnis eines Brainstormings von sehr engagierten und wohlmeinenden Menschen, die sich viel vornehmen, vielleicht ein bisschen zu viel. So viele Karten mit guten Vorsätzen an der paulinischen Moderationswand.

Was machen wir damit?

Am besten das, was wir immer machen, wenn viel auf der To-Do-Liste steht: Sortieren, Prioritäten bilden und einfach mal an einer Stelle anfangen.

„Hasst das Böse, hängt dem Guten an.“

Für mich ist das der Satz, von dem die größte Signalwirkung ausgeht. Gerade, weil er so einfach und plakativ daherkommt. Kaum jemand würde ihn bestreiten. Wollen wir nicht alle das Gute? Allerdings was das Gute ist, da gehen die Meinungen oft weit auseinander. Es braucht schon ein paar Konkretionen und Paulus macht immerhin Andeutungen: Als Menschen in der Gemeinde sollen wir einander lieben. Mit anderen Worten: Füreinander einstehen, solidarisch und zugewandt sein, die Verbindung im Glauben über die vielen Unterschiede stellen, dabei herzlich und respektvoll miteinander umgehen. Wir sollen einander helfen, wo Not am Mann und an der Frau ist. So gesagt, klingt das schon gar nicht mehr so fromm und weltfremd. Und dennoch höre ich auf meinem anderen inneren Ohr die Stimmen, die ironisch oder sarkastisch, in jedem Falle aber überlegen lächeln und spotten: Was seid ihr doch für unverbesserliche Gutmenschen.

Der Lyriker Durs Grünbein schrieb vor kurzem über das Wort Gutmensch:

„Es ist lange her, da tauchte in öffentlichen Debatten zum ersten Mal das Wort ‚Gutmensch‘ auf und machte seltsamerweise sofort als Schimpfwort die Runde. Man muss die Karriere des Wortes nicht im Einzelnen nachzeichnen, festzuhalten ist nur die Umwertung der Silbe ‚gut‘, die seither einer ethischen Desorientierung Vorschub leistet. … Man fand zu einer Schmähform, die schließlich jede Regung der Humanität, der Solidarität oder schlicht der christlichen Nächstenliebe unter Verdacht stellte. Manchmal scheint mir, als habe die allgemeine Verunsicherung hier angefangen. Unterschiedslos trifft das Wort Gutmensch, das … heute fast ausschließlich in Kreisen der Neuen Rechten benutzt wird, den wohlfeilen Tugendwächter wie den Mitarbeiter der Bahnhofsmission, den bequemen Kolumnenschreiber wie den selbstlosen Seenotretter oder die freiwillige Arzthelferin im Kriegsgebiet. Es torpediert nun alles, was auch nur einen Millimeter vom durchschnittlichen Egoismus der Mehrheitsgesellschaft abweicht, von der politisch sanktionierten Gleichgültigkeit, der nationalistisch veredelten Herzenskälte.“[1] Mir scheint, das gesellschaftliche Klima ist nicht auf Wärme gestimmt. Im Gegenteil! „Die Hartherzigen, die Engstirnigen, die Ewiggestrigen geben den Ton an“[2] auf der Bühne der großen Politik. Und sie finden leider viele Nachahmer.

Wir aber, liebe Gemeinde, bleiben Anhänger des Guten, meinetwegen auch Gutmenschen. Dazu gehört, dass wir die verbale Aufrüstung und die Brutalisierung der Sprache, die zurzeit an so vielen Stellen zu beobachten ist, nicht mitmachen. Herzlich und respektvoll soll unser Umgang miteinander sein, schreibt Paulus. Das schließt übrigens Konflikte überhaupt nicht aus. Im Gegenteil! Paulus selbst war ein Meister des Konflikts. Nichts läge ihm ferner, als Differenzen einfach unter den Teppich zu kehren. Aber der Ton macht die Musik und die Suche nach gemeinsamen Zielen. Wo wir versuchen, uns aus verschiedenen Richtungen aufeinander zuzubewegen, „eines Sinnes untereinander“ (V. 16) zu sein, da entsteht ein gemeinsamer Sinn für unsere Gemeinde. Und dieser gemeinsame Sinn, dieser Gemeinsinn, der wirkt sich dann auch aus im Leben des Einzelnen und im Leben unserer Stadt.

Zugegeben, das klingt fast ein wenig zu schön um wahr zu sein. Noch während ich meinen Worten nachlausche, kommt mir die Frage: Ist das nicht alles viel zu anstrengend? Paulus verpflichtet uns ja nicht nur auf das Gute, sondern mahnt auch zum Eifer. „Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist.“ (V. 11) In den Ohren von Menschen, die ohnehin schon viel machen, die sich tagtäglich in Beruf, Familie und Gemeinde engagieren, die möglicherweise schon längst nicht nur brennen, sondern ausbrennen, klingt das in der Tat nicht gut. Umso wichtiger ist es, an dieser Stelle noch einmal ganz genau hinzuschauen. Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, reiht Paulus hier nicht nur Parolen zur Aktivierung aneinander. Ohne Zweifel hören wir die Appelle besonders deutlich, weil wir in unserer Leistungsgesellschaft so sehr auf Appelle konditioniert sind. Weil in vielen Zusammenhängen unser Wert an unserer Leistung gemessen wird. Es ist wichtig, diese Brille hier einmal abzunehmen und stattdessen zu hören:

„Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden.“ (V. 15)

Darum geht es. Es geht um Offenheit für die Gefühle, die im Raum sind. Es geht um Mitgefühl und die Fähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen, sie in ihren Empfindungen ernst zu nehmen, mit ihrer Freude, mit ihrer Trauer, mit allem, was sie mitbringen.[3] Und dieses Mitfühlen ist nun nicht etwa eine Aktivität unter vielen anderen auf unserer To-Do-Liste, wo wir sagen könnten: Das haben wir heute schon erledigt, Häkchen dran. Sondern uns zu freuen mit den Fröhlichen und zu weinen mit den Weinenden, das verwandelt uns selbst. Es macht aus uns einen Resonanzraum für das gemeinsame Menschsein.[4] Einen Ort, an dem wir gerne sind, weil wir uns hier auf Augenhöhe begegnen. Weil jeder mit seiner eigenen Stimme sprechen darf, sich für die Stimme des anderen öffnet und sich so beide verwandeln lassen.

Liebe Gemeinde!

Heute ist Neujahrsempfang und wir sprechen auch nachher über unsere Vorhaben und Ziele für das Jahr 2019. Ja, es wäre schön, hinter möglichst viele davon in diesem Jahr ein Häkchen machen zu können. Das Wichtigste aber ist, dass wir uns verwandeln lassen, dass wir zu Menschen werden, die trotz aller Unkenrufe weiter dem Guten anhängen, die einander freundlich zugewandt sind, die ihre Herzen nicht verhärten, sondern sich und die anderen noch spüren, die fähig bleiben gemeinsam zu weinen und zu lachen. Ob wir dahinter ein Häkchen machen können am Ende des Jahres, das liegt nicht allein in unserer Hand. Eins aber weiß ich gewiss und sage es mit den Worten des Paulus: Der Geist hilft unserer Schwachheit auf (Röm 8,26).

[1] Durs Grünbein: Wie aus Sprache Gewalt wird. Dem Mund, der Hassparolen brüllt, folgt die Faust: Über die Brutalisierung der öffentlichen Rede und die dramatischen Konsequenzen für die Demokratie. In: Die Zeit, Nr. 3 vom 10.01.2019, S. 39.

[2] Ebd.

[3] Vgl. Melanie Mühl: Mitfühlen. Über eine wichtige Fähigkeit in unruhigen Zeiten. München 2019.

[4] Vgl. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016.

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