„Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind“, heißt es in Goethes Faust. Im 18. Jahrhundert ist das vielleicht tatsächlich noch so gewesen. Heute sind wir sehr viel skeptischer, wenn uns von einer Heilung erzählt wird. Wenn von Jesus erzählt wird, er habe geheilt, dann mag das vielleicht gerade noch so angehen. Aber in der Apostelgeschichte (Kap. 3,1-10) wird ja sogar von Petrus erzählt, er habe den „von Mutterleibe an“ Gelähmten geheilt. Kann das denn überhaupt wahr sein? Und wenn ja, was fangen wir damit an?
Die Skepsis gegenüber den biblischen Wundergeschichten hat ja durchaus ihr gutes Recht. Wir sind es gewohnt, die biblischen Erzählungen nach dem zu beurteilen, was wir auch sonst im Alltag für möglich halten. Der berühmte evangelische Theologe Rudolf Bultmann meinte einmal, wer einen Lichtschalter benutze, könne nicht mehr an Wunder glauben. Und neben der Tatsache, dass wir heute mehr oder weniger ein wissenschaftliches Weltbild haben, wissen wir auch, dass der Wunderglaube der Menschen mitunter ausgenutzt wurde und wird. So gibt es beispielsweise Gemeinden, die Heilungsgottesdienste auf offener Bühne zelebrieren und Menschen gleich reihenweise gesundbeten. Jedenfalls behaupten sie das. Wenn man dann genauer hinschaut, dann sind Zweifel angebracht, ob es den vermeintlich Geheilten denn tatsächlich besser geht als zuvor.
Das Wunder ist also heute nicht mehr wirklich „des Glaubens liebstes Kind“, eher schon so eine Art Schmuddelkind. Wir fassen die Wundererzählungen, ob nun biblisch oder zeitgenössisch, eher mit spitzen Fingern an. Schnell haben wir die Sorge, man könnte uns für irrational, für unvernünftig halten, wenn wir zu ernstnehmen, was uns da erzählt wird.
Trotzdem möchte ich ganz ernstnehmen, was Lukas uns in diesem Abschnitt der Apostelgeschichte erzählt.
Zum Beispiel die Zeitangabe am Anfang der Geschichte ist wichtig. Zur Gebetszeit wurde der Gelähmte herbeigetragen. Er selbst blieb draußen am Tor des Tempels und bat diejenigen, die in den Tempel gingen, um ein Almosen.
Nun klingt das Wort „Almosen“ in unseren Ohren heute etwas herablassend. Für die Bibel und auch für andere Religionen, z.B. für den Islam, sind Almosen nichts Schlechtes. Im Gegenteil! Almosen helfen den Bedürftigen. Sie helfen aber auch denen, die geben. Sie helfen nämlich, sich vom Geld zu trennen, nicht das Herz ans Geld zu hängen, ihm zu dienen, es zum Götzen zu machen. Das Almosengeben ist also im besten Sinne des Wortes eine Übung des Glaubens. Wer sich auf diese Weise vom Geld trennt, der sammelt Schätze im Himmel. (Mt 6,20 f.)
Trotzdem ist es auf die Dauer keine Lösung, von Almosen zu leben. Und darum geht es in unserer Geschichte vom Gelähmten. Der nämlich geht seiner täglichen Routine nach und erwartet gar nichts anderes mehr vom Leben als Almosen. Er hat ja schon immer dort gesessen und von dem gelebt, was die Menschen ihm gaben. Wie sollte es jemals anders werden?
Diese Haltung ist uns ja gar nicht so fremd, wie es auf den ersten Blick scheint. Wer in einer Familie aufwächst, in der seit Generationen keiner mehr eine ordentliche Schulbildung genossen oder einen Beruf erlernt hat, der erwartet allzu oft gar nichts anderes mehr für sich selbst als ein Leben auf der Grundlage von staatlichen Transferleistungen. Doch wer das tut, der erwartet zu wenig vom Leben und von sich selbst.
Petrus durchbricht diese Erwartung des Gelähmten, indem er ihn anspricht: „Sieh uns an!“, sagt er zu ihm. Heb deinen Blick, du bist ein Mensch wie wir. Du bist zu Höherem berufen, als für immer dort unten mit gesenktem Kopf zu sitzen und von dem zu leben, was die Menschen für dich übrig haben. Ich will mit dir auf Augenhöhe reden. Ich will dich ansehen. Du sollst Ansehen haben!
Niemand von uns kann ohne Ansehen leben. Wir brauchen Menschen, die uns respektieren, die uns so achten, wie wir sind. Diese Achtung realisiert sich zuerst in der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. In der Tatsache, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen. Vor allem aber ist unser Ansehen darin begründet, dass Gott uns ansieht. „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir“, heißt es im Segen am Ende des Gottesdienstes. Darauf hoffen wir. Weil Gott uns freundlich ansieht, darum heben wir unseren Blick zu ihm, von dem unser Ansehen abhängt. Dann aber heben wir unseren Blick auch zu den Menschen um uns herum. Wer von Gott her sein Ansehen hat, der braucht sein Leben nicht mit hängendem Kopf zu führen.
Das erlebt auch der Gelähmte in der Geschichte. Lassen wir einmal für den Moment die Frage beiseite, ob Wunder überhaupt glaubwürdig sind, und konzentrieren uns auf das Ende der Geschichte. Am Ende, so wird erzählt, ging der Geheilte mit Petrus und Johannes in den Tempel. Er „lief und sprang umher und lobte Gott“.
Was für eine Veränderung!
Am Anfang der Geschichte saß da ein Mensch mit gesenktem Kopf vor dem Tempel und fand keinen Zugang zu dem Ort, wo Kraft und Lebensfreude, wo Segen von Gott her zu den Menschen strömt. Am Ende der Geschichte sehen wir einen Menschen, der in dieser Kraft und Lebensfreude vor Gott lebt.
Das ist mindestens ebenso sehr Teil des Wunders wie die Tatsache, dass der „von Mutterleibe an“ Gelähmte nun plötzlich gehen konnte. Das Wunder, dass ein Mensch zum Lob Gottes befreit wurde, dass er zum Glauben gefunden hat, dass er sich als Geschöpf Gottes erlebt.
Mit dieser Auskunft möchte ich mich aber keineswegs um die Frage herumdrücken, was es mit der Glaubwürdigkeit von Wundern auf sich hat.
Lange Zeit konnte die Theologie mit Wunder immer weniger anfangen. Dafür steht der eingangs zitierte Rudolf Bultmann mit seiner Haltung, wer einen Lichtschalter benutze, könne nicht mehr an Wunder glauben. Das gilt aber auch für andere nach ihm. Der katholische Theologe Hans Küng beispielsweise meint, nicht der Glaube an Wunder, sondern der Glaube an Jesus sei zentral. In diesem Sinne könne der Glaubende auf Wunder überhaupt verzichten.
Doch was ist, wenn gerade der Glaube an Jesus den Glauben an Wunder nährt und stärkt?
Nicht nur in der wissenschaftlichen Theologie gibt es seit einiger Zeit wieder eine vorsichtige Annäherung an Wunder. Der Neutestamentler Gerd Theissen beispielsweise schrieb schon vor über 20 Jahren, die Überlieferung von Jesu Wundern lasse sich ohne seine Tätigkeit als Heiler historisch nicht plausibel erklären.[1] Mit anderen Worten: Auch wenn wir es uns heute nur noch schwer vorstellen können, so ist doch sehr wahrscheinlich, dass Jesus tatsächlich Menschen geheilt hat.
Und darum ist es sinnvoll, die biblischen Heilungsgeschichten nicht vorschnell ad acta zu legen. Im Gegenteil: Sie sind wie bei dem Gelähmten an der Tür des Tempels ein bleibender Anstoß, unsere Erwartungen nicht zu weit runterzuschrauben.
In der Bibel gehören Heil und Heilung zusammen. Warum dann nicht auch in unserem Leben?
Dass Heil und Heilung auch heute noch zusammengehören, darauf weisen uns auch medizinische Studien hin.[2]
Gewiss, der Zusammenhang beispielsweise zwischen Beten und seelischer Gesundheit ist schwer zu erforschen. Dennoch gibt es ernstzunehmende Studien dazu in den USA. Menschen mit religiöser Lebenseinstellung scheinen demnach besser mit Stress umgehen zu können, sich insgesamt gesundheitsförderlicher zu verhalten und auch seltener unter Einsamkeit zu leiden als andere.
Diese positiven Effekte religiöser Lebenseinstellung wirken sich nicht nur seelisch, sondern auch körperlich positiv aus.
Nochmal: Damit ist strenggenommen nichts bewiesen. Und doch sind es für mich Hinweise darauf, dass wir die biblischen Erzählungen von Heilungen ernstnehmen sollten. Heil und Heilung gehören zusammen. Leib und Seele ebenso. Es wäre zu kurz gegriffen, wenn wir unseren Glauben nur auf unser Seelenleben beziehen würden, nicht auf unseren Körper.
Und natürlich stellt sich dann erst recht die Frage: Warum wurde der Gelähmte damals geheilt und ich heute nicht?
Eine Frage, auf die es keine generelle Antwort gibt. Eine Frage, die uns sicherlich in Zweifel stürzen kann. Die nur schwer auszuhalten sein mag, mit der aber doch besser zu leben ist, als von vornherein nichts mehr zu erwarten und den Blick traurig zu senken wie der Gelähmte am Anfang der Geschichte.
Heil und Heilung gehören zusammen. Die Kirche hat darauf übrigens ganz wie das Volk der Augenzeugen in der Apostelgeschichte immer wieder auch mit Entsetzen und Ablehnung reagiert. Als der schwäbische Pfarrer Johann Christoph Blumhardt Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte, dass Menschen durch sein Gebet gesund wurden, da bekam er alsbald einen Brief des Landeskirchenamts in Stuttgart, er möge doch bitte sofort mit diesem Unfug aufhören und sich stattdessen aufs Predigen konzentrieren. Glücklicherweise hielt Blumhardt sich nicht an diese Weisung, sondern kaufte – ganz schwäbischer Dickschädel – das Kurhaus in Bad Boll und machte daraus ein weithin bekanntes Zentrum für Menschen, die Heil und Heilung suchten.
Darin liegt Hoffnung. Nicht zuletzt für uns als Kirche, die wir heute immer häufiger wie Petrus sagen müssen: „Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!“
In diesem Namen, liebe Gemeinde, liegt unser eigentlicher Reichtum und der Zugang zu allem, woran wir glauben und was wir von Gott erwarten.
[1] Gerd Theissen, Annette Merz: Der historische Jesus. Göttingen 1996, 280.
[2] Vgl. Martin Hambrecht: Beten und seelische Gesundheit. In: Dt. Pfarrerblatt 8/2019, 427 ff.