Palmsonntag. Heute beginnt die Karwoche. Eine Woche, in der wir uns als Christen auf das Osterfest vorbereiten. Dazu gehört im Normalfall die Planung von Verwandtenbesuchen an den Osterfeiertagen, dazu gehören Konzerte und Andachten und natürlich die Gottesdienste an Gründonnerstag und Karfreitag. Doch nichts ist normal in dieser Karwoche.
Bund und Länder haben in der vergangenen Woche die wegen der Corona-Pandemie bestehenden Kontaktbeschränkungen bis zum 19. April verlängert. Und auch danach wird nach heutigem Stand noch nicht wieder alles so sein wie vor der Krise. Verwandtenbesuche fallen bis auf weiteres aus, Konzerte, Andachten und Gottesdienste finden im Fernsehen, im Internet oder übers Telefon statt.
Ja, es wäre wunderbar gewesen, wenn das gesellschaftliche Leben in gewohnter Form und mit ihm auch das Gemeindeleben an Ostern eine Auferstehung erlebt hätte! Das wird nun leider nicht geschehen.
Dennoch ist dies nicht das Ende. Unser Leben als Gemeinde geht in veränderter Form weiter, und vielleicht ist gerade die Unterbrechung des gewohnten Festrituals eine Chance, die Botschaft der Karwoche und dann auch des Osterfestes ganz neu zu hören.
Heute, am Palmsonntag, erinnern wir uns an den Einzug Jesu in Jerusalem. Mit dieser Geschichte verbinden sich altvertraute Bilder. Jesus auf dem Esel. Die jubelnde Menge, die dem kommenden König mit Kleidern und Palmzweigen einen Weg ebnet, die Rufe „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn“! Und alle wissen, so wird es nicht bleiben. Die heute „Hosianna“ rufen, schreien morgen schon „Kreuziget ihn“!
Zwischen diesen beiden extremen Polen, zwischen Begeisterung und Hass, erzählt uns der Evangelist Markus eine kurze und viel stillere, aber umso berührendere Geschichte (Die Bibel, Markus, Kap. 14):
3 Als er [Jesus] in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt.
4 Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls?
5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.
6 Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan.
7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit.
8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis.
9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.
Die Frau in der Geschichte sorgt mit ihrer Salbung Jesu für einen denkbar starken Kontrast. Das Haus Simons des Aussätzigen in Betanien wird kaum besonders luxuriös gewesen sein. Damals wie heute führt Krankheit allzu oft zu sozialer Ausgrenzung und Armut. In diese Tischgemeinschaft am Rande Jerusalems, am Rande der Gesellschaft bringt die Frau ein Luxusprodukt.
Nardenöl wurde aus indischer Narde hergestellt, einer Nutz- und Heilpflanze aus dem Himalaya, die schon in der Antike bis in den Mittelmeerraum exportiert wurde. Dass hier etwas unfassbar Teures auf Jesu Kopf gegossen wurde, war offensichtlich allen im Raum sofort klar.
Und die Empörung, der Protest ist auch sofort im Raum: Was soll diese Verschwendung? Dreihundert Silbergroschen hätte man dafür bekommen, überschlagen die Kundigen schnell den Preis. Was hätte man damit alles Gutes tun können!
Von Verschwendung ist immer dann die Rede, wenn ein finanzieller Aufwand als unverhältnismäßig zu seinem Zweck erscheint. Derselbe Betrag wird als niedrig oder hoch empfunden je nachdem, wofür er ausgegeben wird.
Zehn Euro für eine Schutzmaske, die normalerweise vierzig Cent kostet, sind viel Geld, aber zugleich eine angemessene Ausgabe, wenn sie medizinisches Personal vor Infektionen schützt. Überhaupt schlägt in der Corona-Pandemie die Stunde der Kosten-Nutzen-Rechnungen. „Wie viel Geld darf ein Menschenleben kosten?“, wird gefragt (NZZ am Sonntag vom 28.03.2020). Ökonomen warnen vor Massenarbeitslosigkeit, Konkurswellen und gigantischen Kosten. Wirtschaftliche Interessen werden gegen Menschenleben aufgewogen. Zugespitzt steht dahinter die Frage: Lohnt es sich überhaupt, eine Kontaktsperre für alle zu verhängen, wenn doch nur zehn Prozent der Menschen, die besonders Verletzlichen, wirklich vor dem Virus geschützt werden müssen?
Keine Frage: Die wirtschaftlichen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie sind riesig. So riesig, dass Menschen daran verzweifeln können. Wer in diesen Tagen Inhaber eines kleines Geschäfts ist, dem die Kunden wegbrechen, oder eine Solo-Selbständige, dem gehen diese wirtschaftlichen Fragen zu Recht unter die Haut. Und es ist wichtig, dass die Politik hier schnell und unbürokratisch Hilfen für möglichst viele bereitstellt.
Viele von uns können dabei auch helfen. Wer selbst nicht in finanzielle Engpässe gerät, kann beispielsweise auf die Erstattung von Eintrittsgeldern für ausgefallene Veranstaltungen verzichten oder bei der Gemüsehändlerin an der Ecke einkaufen und den Betrag großzügig aufrunden. Wir können auch unseren Lieblingsläden, die derzeit geschlossen bleiben müssen, Gutscheine abkaufen oder in unseren Lieblingsrestaurants Essen zum Mitnehmen bestellen. Solidarität im Kleinen wie im Großen ist das Gebot der Stunde.
Bei all‘ diesen Erwägungen dürfen wir aber eines nie vergessen: Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Und darum ist und bleibt es richtig, dass wir keine Kosten und Mühen scheuen, diejenigen zu schützen, die besonders verletzlich sind. Das Wohlergehen der Neunzigjährigen im Pflegeheim und das des fünfzehnjährigen Schülers gehören zusammen. Nur wenn alle sich an die Regeln halten, wird unser Gesundheitssystem auch in den vor uns liegenden Wochen für alle funktionieren. Und darum ist es gerade keine Verschwendung, wenn wir jetzt die Verletzlichen konsequent schützen und für diesen Zweck alle Verzicht üben. Es ist vielmehr das Gebot der Stunde, dies zu tun.
So wie es das Gebot der Stunde ist, Jesus in Betanien zu salben. Die Frau hat verstanden, was an der Zeit ist, und Jesus verteidigt sie gegen ihre Kritiker. „Sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis“, sagt er und zeigt sich damit selbst in seiner Verletzlichkeit.
Auf seinem letzten Weg, kurz vor seinem Tod bedarf Jesus der Stärkung. Der Sohn Gottes zeichnet sich gerade nicht durch Überlegenheit aus. Er ist kein unverletzlicher Superheld, der unbeeindruckt von Schmerz und Leid über den Dingen stünde. Jesus kennt und teilt unsere Angst und unsere Schwäche. Und gerade so ist er der König.
Die Frau salbt ihn zum König. Vor allen anderen hat sie verstanden, wer Jesus ist. Er ist der Mensch, der alle Menschen vor Gott vertritt. Gerade als verletzlicher und sterbender Mensch vertritt er uns vor Gott. Und er vertritt gerade auch alle diejenigen vor Gott, die in dieser Karwoche 2020 sterben werden, ob an Covid-19 oder aus anderen Gründen. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“, heißt es in einem Choral aus dem 11. Jahrhundert. Die Realität dessen rückt uns in dieser Woche beängstigend nahe.
Martin Luther hat im Jahr 1524 zwei Strophen zu diesem Choral ergänzt. In der dritten Strophe fragt er:
Wo solln wir denn fliehen hin,
da wir mögen bleiben?
Zu dir, Herr Christ, alleine. (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 518)
Zu Christus wenden wir uns, weil er uns vor Gott vertritt und so Gott zu uns bringt, zu uns verletzlichen und sterblichen Menschen. Und damit bringt er uns eine Würde und eine Kraft, die uns gerade in schwierigen Zeiten trägt.
Würde als Ebenbilder Gottes, Kraft der Auferstehung in unserem verletzlichen Leben – das ist es, wonach wir uns auch in dieser ganz besonderen Karwoche 2020 sehnen, worauf wir hoffen.
Möge diese Hoffnung uns alle durch diese Woche tragen, uns geduldig und solidarisch machen miteinander.
Gebet
Gott, unser himmlischer Vater!
Zu dir kommen wir am Beginn dieser Woche.
Es ist alles so anders als sonst, der Druck der Krise lastet schwer auf uns.
Wir vermissen liebe Menschen, wir weichen einander aus, wo wir uns begegnen.
Wir haben Angst um unsere Lieben und auch um uns selbst.
Wie lange wird das alles noch dauern?
Zu dir kommen wir mit allem, was uns bewegt und bitten dich:
Stärke unser Vertrauen in dich. Du weißt, wie es uns geht.
Du bist bei uns in der Not und tröstest uns wie eine liebevolle Mutter.
Zeige uns, wo wir mitten im Tod vom Leben umgeben sind.
Stärke und bewahre alle, die jetzt Verantwortung tragen:
Die Politikerinnen und Politikern, dass sie gute Entscheidungen treffen.
Die Ärztinnen und Pfleger, dass sie Leben retten.
Die Bauern, dass sie Mitarbeiter für die Ernte finden.
Die Kassiererinnen in den Supermärkten, dass sie gesund bleiben.
Uns alle, dass wir tun, was wir können und guten Mutes bleiben.
Sei besonders bei all‘ denen, die in dieser Woche schwer krank sind und sterben.
Lass sie spüren, dass du bei ihnen bist und nimm sie auf in deine neue Welt.
Amen.
Musik: